Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Korbach
Aufnahme der Juden in die Bürgerschaft
Zuzug weiterer jüdischer Familien
Simson Wittgenstein, (der Sohn des inzw. verstorbenen
ersten Antragstellers) und der Färber L. Markhof wurden
am 29. Januar 1849 als erste Juden in die Bürgerschaft
aufgenommen. Im folgenden Jahr erhielten Samuel und Levy
Mosheim das Bürgerrecht, fast alle jüdischen Gewerbetreibenden
folgten ihnen.
Durch die Aufnahme der Juden in die Bürgerschaft war ein
wesentlicher Schritt auf dem Gebiet der Judenemanzipation
und der damit einhergehenden Integration der Juden
in die Bevölkerung getan. Das Bürgerrecht beinhaltete
das Wahlrecht zu den städtischen Gremien; die Niederlassungs-
und Handelsbeschränkungen entfielen, der Aufnahme
in die Kaufmannschaft stand nichts mehr im Wege.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der jüdische
Kaufmann Jacob Wittgenstein, der Mitbegründer und
Schriftführer des Korbacher Bürgervereins war, im Jahr
1849 als Abgeordneter der Demokratischen Partei in den
Waldecker Landtag gewählt wurde und das in einem rein
dörflichen Wahlbezirk, der die Gemeinden im Raum Adorf
umfaßte.
Für Korbach brachte die eingetretene Freizügigkeit einen
verstärkten Zuzug jüdischer Familien mit sich, die meist
aus den angrenzenden hessen-darmstädtischen - ab 1866
preußischen - Orten oder Enklaven innerhalb Waldecks,
den Orten Höringhausen und Eimelrod, kamen und durchweg
in Korbach Häuser erwarben und Geschäfte eröffneten.
Die als wohlhabend anzusehende Familie Sirnon und ein
Zweig der Familie Wittgenstein hatten zu dieser Zeit
bereits Korbach verlassen. Die Brüder Sirnon und Hermann
Wittgenstein verlegten in den dreißiger Jahren ihren
Wollhandel nach Leipzig, Angehörige der Familie Sirnon
verzogen nach Frankreich. Das von Simson Wittgenstein
betriebene Warenhaus wurde nach seinem Tode im Jahre
1855 kurz von seinem Sohn Jacob, dem späteren Stifter
der nach ihm benannten Altersversorgungsanstalt,
weitergeführt, der dann nach Berlin ging und es dort zu
einem bedeutenden Vermögen brachte. An die Familie erinnert
neben der Jacob-Wittgensteinschen Altersversorgungsanstalt
auch eine Straßenbezeichnung.
Inzwischen waren nunmehr auch die als alteingesessen
anzusehenen Nachkommen der einstigen Schutzjuden durch
Fleiß und ihren ausgeprägten Geschäftssinn zu einem gewissen
Wohlstand gelangt und gingen verstärkt dazu über,
neben oder anstelle ihres ambulanten Handels stehende
Geschäfte zu eröffnen. Nahezu alle jüdischen Geschäfte
befanden sich in den bevorzugten Lagen der Altstadt in
dem das Rathaus umgebenden Bereich der Landstraße (später
Prof.-Kümmell-Straße), der Lengefelder Straße und
der Stechbahn. Weil in der Prof.-Kümmell-Straße (früher
Landstraße) von 13 Häusern 8 in jüdischem Besitz waren,
nannte man sie scherzhaft "Jerusalemer Landstraße".Durch
den Anschluß Korbachs an das Eisenbahnnetz im Jahr 1893
kam es dann um die Jahrhundertwende auch zu Geschäftsverlegungen
und -neugründungen in der Bahnhofsgegend und
im Bereich des Berndorfer-Tor-Platzes.
In den Jahren 1850 - 1900 wurden 16 Geschäfte durch jüdische
Geschäftsleute gegründet und zwar:
1850 - 1870 5
1871 - 1890 9
1891 - 1900 2
Von den 16 Kaufleuten kamen neun aus hessen-darmstädtischen
(nach 1866 preußischen) Gemeinden, davon
6 aus Höringhausen
1 aus Eimelrod
1 aus Basdorf
1 aus Marienhagen
Die Orte Höringhausen und Eimelrod waren hessen-darmstädtische,
seit 1866 preußische Enklaven in Waldeck.
Aus den waldeckischen Orten Adorf zogen zwei Familien
zu, je eine kam aus Goddelsheim, Meineringhausen, Mandern
und Arolsen, eine kam aus der westfälischen Gemeinde
Leitmar.
Nach 1900 ließen sich noch vier von außerhalb kommende
jüdische Familien in Korbach nieder und eröffneten Geschäfte.
Die jüdischen Kaufleute widmeten sich neben ihrer überkommenen
Tätigkeit als Viehhändler (in der sie quasi
eine Monopolstellung hatten) vorrangig dem Handel mit
Schuh- und Textilwaren, Bekleidung und Wäsche; zwei Textilgeschäfte
entwickelten sich zu führenden Modehäusern.
Ferner gab es an herausragender Stelle eine Eisen- und
Holzwarenhandlung und eine Ringofengesellschaft mit
Zementwarenfabrik, Baustoffhandlung sowie eine Getreide und
Futtermittelhandlung.
An Handwerksbetrieben etablierten sich eine Metzgerei
und eine Putzmacherin, eine Färberei bestand schon lange
Jahre.
Es überrascht, in welch kurzer Zeit die seit der Mitte
des vorigen Jahrhunderts zugezogenen Juden zu Haus- und
Grundbesitz und zu einem gewissen Wohlstand gelangten;
nahezu alle wohnten in eigenen Häusern. Hierzu hat sich
Dr. Fritz Scheele (Stadtarchivar von 1948 - 1952) wie
folgt geäußert.
"Die Geschwindigkeit, mit der sich die jüdischen
Familien Besitz und Wohlstand erwarben, ist erstaunlich
und auf den ersten Blick unverständlich.
Die Ursachen für dies seltsame Phänomen liegen aber
in der Stagnation der letzten 350 Jahre; Lethargie,
Verwandtenehen, Armut ließen kein echtes Unternehmertum
mehr aufkommen, so konnte auch nichts
erworben und gemehrt werden; in diese ökonomische
Lücke stieß der Unternehmungsgeist, die händlerische
Intelligenz der Juden, sie überrundeten die
lauen Geschäftsleute mit ihrem Tatendrang, ihrer
Sparsamkeit, dem Zusammenhalt der Kultusgemeinde;
sie kauften die Häuser ausgehender Familien oder
auch fallierender Geschäftsleute, Handwerker oder
Bauern. Bald hatten sie eine große Zahl von
Grundstücken in ihrer Hand, vor allem in den Hauptstraßen."
Durch die im Zusammenhang mit der Reichsgründung 1871
erfolgten Gesetzgebung war die völlige rechtliche
Gleichstellung der Juden abgeschlossen. Die Juden
wandelten sich von Angehörigen des Volkes Israel zu
deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens, die nicht
mehr unter sich blieben, sondern sich in die
Bürgerschaft integrierten und Mitglieder in den
örtlichen Vereinen wurden (z . B. in der Feuerwehr, den
sporttreibenden Vereinen usw.). Im Jahr 1909 wurde der
jüdische Kaufmann Jacob Markhoff in den Gemeinderat
gewählt. Kurzum, sie lebten wie die übrigen Bürger auch,
ohne dass es zu nennenswerten Schwierigkeiten kam.
Frau Ilse Löwenstern, früher Kirchstraße 13, Korbach,
äußert sich hierzu unter anderem in einem Schreiben vom
20.07.1992 wie folgt: (Auszug)
"Meiner psychischen Gesundheit wegen habe ich es seit
vielen Jahren vermieden, nach Korbach zu fahren, obgleich
ich die schönen Erinnerungen auch nicht vergessen
habe und meine Heimat nicht aufgehört habe zu lieben;
Korbach, den Edersee mit Schloß Waldeck, das Upland.
Mein Vater und mein Onkel waren regelrechte Lokalpatrioten
und schon als kleines Kind hörte ich vierstimmig
singen: Mein Waldeck lebe hoch (natürlich auch viele
andere Lieder) .
Die Korbacher Juden fühlten sich als Deutsche, mit Ausnahme
von nur 2 Personen, die Zionisten waren und demgemäß
die Juden nicht lediglich für Mitglieder einer religiösen
Gemeinschaft, sondern als Glieder einer nationalen
Gemeinschaft. Doch führte dies zu keinem Streit innerhalb
der Gemeinde, man war tolerant, das Thema war
tabu, bei Freunden unterschiedlicher Gesinnung in diesem
Punkt.
Infolge der verfolgungsbedingten Auswanderung vieler
Juden auch nach Palästina/Israel mögen sich die Anschauungen
der Nachkommen in Bezug auf den Staat Israel
mehr oder weniger gewandelt haben."
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